Das Cabinet des Dr. Caligari
Das Cabinet des Dr. Caligari
Deutschland 1920, 75 Minuten | s/w, viragiert
Es ruckt, zuckt und zittert, wenn diese Bilder erscheinen, deren befremdliche Viragierung zwischen Blau und Sepia oszilliert. Der erste Eindruck: Verwirrung. Dieser Film sprengt die Grenzen üblicher Sehgewohnheiten. Doch was wird hier eigentlich erzählt – an der Schnittstelle zwischen Mord und Wahnsinn? Ein exzentrischer Doktor, der einen Abhängigen zu mörderischen Taten zwingt. Ebenso fremdartig wie dieser Caligari wirken die gemalten Kulissen, mit ihren zahllosen Schrägen und verzerrten Dekorationen, die eine verstörend verschobene Wahrnehmung erzeugen.
Die Binnenhandlung des expressionistischen Stummfilmklassikers erzählt die Geschichte des unheimlichen Dr. Caligari. Tagsüber präsentiert er auf dem Jahrmarkt den somnambulen Cesare, der unter dem Einfluss von Caligari steht. Cesare sagte auf dem Jahrmarkt dem Publikum die Zukunft voraus und prophezeit einem jungen Mann, dass er bald sterben müsse. In der folgenden Nacht wird Alan ermordet, sein Freund Francis verdächtigt Caligari, hinter dem Mord zu stehen. Als auch noch seine Freundin Jane von Cesare entführt wird, sieht Francis seinen Verdacht bestätigt. Er verfolgt Caligari, der sich in eine Irrenanstalt flüchtet und sich als Direktor der Anstalt entpuppt – mit Spezialgebiet Somnambulismus. Immer mehr verdichtet sich die Geschichte zur Hypothese, dass Caligari seine medizinischen Erkenntnisse nutzt, um Morde begehen – bis sich die ganze Geschichte als verrückte Erfindung von Francis entpuppt, der selbst Insasse der Anstalt ist. Aber so diabolisch, wie Caligari lacht, ist nicht sicher, wer letztendlich verrückt ist …
Auszug aus einer zeitgenössischen Kritik:
„Es gilt, eine neue Seite in der Geschichte des Films zu beginnen: "Das Kabinett des Dr. Caligari" … stellt zum ersten Male die bildende Kunst ebenbürtig neben die darstellende und schweißt Bild und Bewegung zu einer Wirkungsharmonie zusammen … Diese Welt des Wahns, nicht durch flackernde, huschende Visionen, sondern durch die ruhige, aber verzerrte Einstellung eines seelischen Blickes zu geben – das ist in Bildern von seltener körperlicher Geschlossenheit und Stimmungsschwere geglückt. (Drei Maler: Warm, Reimann, Röhrig.). Vor allem der Caligari des Werner Krauß (der hier in die vorderste Reihe der Filmdarsteller tritt) ist in Maske, Miene und Gebärde von gespenstischer Romantik, stärkster E.T.A. Hoffmann. Dies ist der bleibende Eindruck: hier ist ein Kunstwerk geschaffen, das willig den natürlichen Gesetzen des Films folgt und sein eigenstes und stärkstes Ausdrucksmittel, das Malerische in einem Grade der Vollendung zur Auswirkung bringt.“
[My (= Dr. Wilhelm Meyer), Vossische Zeitung, 29.2.1920]
Ausgangsmaterial der 4K-Restaurierung war das Kamera-Nitro-Negativ. Dieses weist keine Zersetzungserscheinungen und kaum Schrammen auf, es enthält fast alle originalen Zwischentitel in Blitztiteln. Allerdings fehlt die 1. Rolle, zusätzlich gibt es zahlreiche Bildsprünge. Diese Fehlstellen wurden durch Material aus Exportkopien aufgefüllt und mittels eines digitalen Composit-Prozesses an das Negativ-Material angeglichen. Durch den Rückgriff aufs Negativ ließ sich die Bildqualität des Films erheblich verbessern, da die früheren Bearbeitungen auf gebrauchte Kopien verschiedener Generationen aufbauten. Ein weiterer Fortschritt der Digitalrestaurierung besteht in der authentischen Wiedergabe der historischen Einfärbungen: neben der einfachen Einfärbung (Virage oder Tinting, bei der die hellen Flächen des Bildes monochrom gefärbt werden, das schwarze Silberkorn schwarz bleibt) gibt es chemische Einfärbungen (Toning, bei denen Metallsalze das Silberkorn farbig affizieren). Dadurch gewinnt das Bild eine besondere Plastizität und es lassen sich mehrfarbige Bilder herstellen. Diese sind bei CALIGARI besonders interessant, da in der Rahmengeschichte mehrfarbige Tönungen eingesetzt wurden, die den irrealen Effekt dieser Geschichte verstärken.
DAS CABINET DES DR. CALIGARI hatte keine Originalmusik, erst nach der Uraufführung stellte Giuseppe Becce (1877-1973), einer der damals führenden Berliner Kinokapellmeister, eine Begleitmusik zusammen. Was da zu hören war, ist nicht überliefert, aber Becce hat Material davon in seine Sammlung von Kinomusik-Stücken einfließen lassen und sie mit den Titeln Notte Misteriosa, Lotta oder Aiuto, aituto überschrieben.
Giuseppe Becce hat in seiner langen Karriere als Filmkomponist keinen individuellen Kompositionsstil entwickelt, seine Bedeutung liegt vielmehr in seiner Methode. 1927 gab er das ‘Allgemeine Handbuchs der Filmmusik’ (1927) heraus, eine Sammlung von ca. 80 ausdrucksstarken Filmmusikstücken, die Becce entweder selbst geschrieben oder aus der Konzert- und Opernmusik übernommen hatte, und die er unter dem Aspekt ihres dramatisch-emotionalen Gehalts für bestimmte Filmszenen rubrizierte. So etwa Notte misteriosa für ‚geheimnisvolle drohende Szenen‘, Fuga notturna für ‚Angst, angstvolle Flucht und Verfolgung‘ oder Aiuto, aiuto für ‚äußerst bewegte Szenen, Verfolgung, Brand‘. Diese Kinotheken-Sammlung funktioniert wie eine große Improvisations-vorlage, die den ausführenden Musikern Freiheiten lässt und die zugleich hohes Können in der Gestaltung von Szenenüberleitungen abverlangt.
Mit dieser Methodik - der Koppelung von Grundstimmungen in Filmszenen und Musikmotiven des 19. Jahrhunderts - beschäftigte sich die Kompositionsklasse der Freiburger Musikhochschule 2013/14 unter der Leitung von Cornelius Schwehr. Experimentell wurden die überlieferten Stücke und andere Kinotheken-Stücke an den Film angelegt. Das alles passte irgendwie, zeigte aber auch Grenzen bei diesem expressionistischen Film, weil das Ausdrucksrepertoire der Kinotheken mit der Musiksprache des späten 19. Jahrhunderts endet. Die neue Musik erweitert den Fundus um die Stilistik des frühen und mittleren Schönberg und greift auf typische Genre-Musiken für pointierte Suspense-Szenen zurück. Auch die Romantik ist vertreten, etwa mit Schuberts ‚Der Tod und das Mädchen‘ in einer Version für Drehorgel. Mit entsprechender Bearbeitung funktioniert der Baukasten von Giuseppe Becce also immer noch als ein Verfahren, das das kollektive Musikgedächtnis stimuliert. Die Besetzung der Filmmusik folgt der klassischen Kino-Orchesterbesetzung (Holz- und Blechbläser, Streicher, Percussion, Klavier und Harmonium) und tauscht das Harmonium gegen eine Drehorgel als Instrument mit besonderer Affinität zu CALIGARI.
Cornelius Schwehr et.al.
Das Cabinet des Dr. Caligari
Filmmusik für Ensemble zum gleichnamigen Film von Robert Wiene (1919/1920)
Weitere Co-Autorinnen und Co-Autoren:
Carlos Cárdenas, Vasiliki Kourti-Papamoustou, Pablo Beltrán, Stephan Dick, Seongmin Lee, Martin Bergande, HongTing Lai, Carlo Philipp Thomsen
Besetzung für Ensemble:
– 0.1.1.0 – Schlzg (Becken, kl.Trommel, Xylophon, Vibraphon), Klavier, Orgel – Streicher (1.0.0.1.1)
= 9 Musiker
Dr. Giuseppe Becce ist einer der internationalen Pioniere der Filmmusik. 1877 in Oberitalien geboren, kam er um 1900 als Geografie-Student nach Berlin, promovierte in Geografie und setzte sein Musikstudium bei Arthur Nikisch und Ferruccio Busoni fort. Seine Filmkarriere begann 1913 bei dem Film RICHARD WAGNER, für den Becce die Filmmusik ‘im Stil’ von Richard Wagner komponierte, was dem Produzenten Oskar Messter hohe Lizenzen an die Wagner-Erben ersparte. Von da an begann Becces produktive Laufbahn als Komponist, Dirigent und Musik-Publizist. Er arrangierte zahllose Illustrationsmusiken, schrieb Lieder und Motive und war Dirigent an den führenden Uraufführungs-Kinos Berlins: Mozartsaal (1915-1923), Ufa-Pavillon am Nollendorfplatz (ab 1922), Tauentzien-Past (ab 1923), Gloria-Palast (ab 1926). Seine wichtigsten Originalkompositionen aus der Stummfilmzeit sind Der letzte Mann (1924) und Tartüff (1925). Ab 1930 komponierte bis Ende der 1950er Jahre über 100 Tonfilmmusiken, wie Das Blaue Licht (1931, Leni Riefenstahl), die Tonfilmfassung von Die weiße Hölle vom Piz Palü (1935, Arnold Fanck), sowie Berge in Flammen (1931), Heimat- und dokumentarische Bergfilme waren sein bevorzugtes Genre. Becce starb 1973 mit 96 Jahren in Berlin.
Robert Wiene, 1873 in Breslau geboren, übernahm nach einem Jurastudium 1908 die Leitung des Kleinen Schauspielhauses in Wien, ab 1912 war er in der Filmbranche tätig, zunächst als Drehbuchautor, dann als Regisseur. Er arbeitete u.a. für die Messter-Film GmbH und Deutsche Bioscop, sowie für die Schauspielerin und Produzentin Henny Porten. Der internationale Durchbruch kam mit DAS CABINET DES DR. CALIGARI für die Decla-Film von Erich Pommer. 1922 gründete Wiene seine eigene Produktionsfirma und hatte mit RASKOLNIKOW, SCHULD UND SÜHNE und der monumentalen Bibelverfilmung I.N.R.I großen Erfolg. 1924 ging er wieder nach Wien, landete mit ORLACS HÄNDE einen Kinohit, und nahm sich dann eine ambitionierte ROSENKAVALIER Verfilmung vor, die für die produzierende Pan-Film AG zum finanziellen Desaster wird. Ab 1926 inszenierte Wiene gehobene Unterhaltungsfilme. Seinen ersten Tonfilm, der Psychothriller DER ANDERE, inszenierte er 1930, gefolgt von weiteren Genrefilmen. Der Machtantritt der Nazis zwingt ihn ins Exil, zunächst nach Budapest, dann nach London und zuletzt nach Paris; zusammen mit Jean Cocteau versucht er ein Remake seines CALIGARI, sein letzter Film ist der Spionagefilm ULTIMATUM, den Robert Siodmak zu Ende führt, da Wiene vor Abschluss der Dreharbeiten am 17. Juli 1935 mit 62 Jahren stirbt.
Credits
- Regie:
Robert Wiene - Drehbuch:
Carl Mayer, Hans Jannowitz - Kamera:
Willy Hameister - Bauten:
Walter Röhrig, Walter Reimann, Hermann Warm
UA 27.02.1920, Marmorhaus Berlin - Darsteller:
Werner Krauss (Dr. Caligari), Conrad Veidt (Cesare), Lil Dagover (Jane), Friedrich Fehér (Francis), Hans Heinrich von Twardowski (Alan), Rudolf Lettinger (Medizinalrat Olsen) - Restaurierung (2013):
Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung - Musik (2014):
Cornelius Schwehr et al. - Redaktion:
Nina Goslar - Produzent:
Thomas Schmölz (2eleven musc film)