Der letzte Mann

Deutschland 1924, 90 Minuten | HD-s/w-restaurierte Fassung

DER LETZTE MANN kommt fast vollständig ohne Zwischentitel aus und ist damit der erste Stummfilm, bei dem dies erfolgreich umgesetzt wurde. Das liegt zum einen an der beeindruckenden Leistung von Emil Jannings, zum anderen aber auch an der technischen Virtuosität des Films: Die Kamera von Karl Freund bewegt sich „entfesselt“ durch die Räume und visualisiert, auch durch die Verbindung von Traumsequenzen, Überblendungen und Spezialeffekten, das Seelenleben ihres Protagonisten. Eine so starke Subjektivierung des Kamerablicks hatte es bis dato im deutschen Stummfilm noch nicht gegeben.


Berlin, Anfangs des 20. Jahrhunderts. Der alte Portier des Hotels "Atlantic" verdankt seiner prächtigen Uniform Selbstwertgefühl und Anerkennung: Vor der Drehtür des Hotels ist er stolzer Diener, der die Gäste begrüßt, zu Hause im Hinterhofmilieu ein viel bewunderter Mann. Doch eines Tages beobachtet der Geschäftsführer, wie schwer dem alten Portier das Hantieren mit den Koffern fällt: Er verbannt ihn daraufhin in den Keller, degradiert ihn zum Toilettenmann. In seinem Milieu wagt er nicht, den Abstieg einzugestehen. Als seine Tochter heiratet, stiehlt er die Uniform, um wenigstens hier den Schein zu wahren. Doch der Schwindel fliegt auf, er wird von seinen Hausbewohnern verlacht und gedemütigt, seine Verwandten wenden sich von ihm ab. Verzweifelt zieht sich der alte Mann in den Waschraum der Hoteltoilette zurück.

F. W. Murnau hat an diese Handlung, getrennt durch den einzigen Zwischentitel des Films, ein ihm aufgezwungenes, bitter-ironisches Happy End gesetzt: Auf der Toilette stirbt ein reicher Hotelgast in den Armen des Alten und vermacht ihm sein ganzes Vermögen. So wird aus dem "letzten Mann" ein umworbener Hotelgast.

Durch den visionären Einsatz der „entfesselten Kamera“ und das brillante Schauspiel kommt dieser Meilenstein des deutschen Stummfilms fast vollständig ohne Zwischentitel aus. Hauptdarsteller Emil Jannings emanzipierte sich mit diesem Sozialdrama von seinen ewigen Kostümrollen und erlangte, ebenso wie Regisseur F. W. Murnau und Kameramann Karl Freund, internationale Anerkennung.

 

PRODUKTIONSFIRMA: Union-Film der Universum-Film AG (Ufa), Berlin

DREHARBEITEN: Ende Mai bis September 1924

DREHORTE: Ufa-Freigelände Neubabelsberg, Ufa-Atelier Berlin-Tempelhof

ZENSUR: 16.12.1924, B.09546, Jugendverbot

URAUFFÜHRUNG: 23.12.1924, Ufa-Palast am Zoo, Berlin

PRÄDIKATE: Volksbildend, Künstlerisch

ORIGINALFORMAT: 35mm, 1:1,33, s/w, stumm

Giuseppe Becces Musik zählt zu den wenigen erhalten gebliebenen Filmmusiken der Stummfilmzeit. Überliefert ist sie als Klavierdirektion und Violinstimme. Durchgehend ausnotiert sind die Akte 2, 4 und 5, in Akt 1 und 3 befinden sich neben ausgeschriebenen Passagen Verweise auf Stücke anderer Komponisten, für Akt 6 empfiehlt Becce lediglich fünf Shimmies.

Interessant sind die von Becce ausgeschriebenen Passagen; wie Detlev Glanert schreibt, ”...hat sich Becce um eine durchgehende Komposition bemüht, was für uns die eigentliche Wiederentdeckung ist; der 2. bis 5. Akt sind bis auf 5 Minuten durchkomponiert, mit ganz bewusst gesetzten Leitthemen, Leitmotiven und Leitklängen. Vor allem der 2., 4. und 5. Akt weisen Motive und Melodieteile mit großer Potenz auf, die entweder einer weiteren musikalischen Entwicklung zu harren scheinen, oder aber wie ein Kommentar zu etwas vorher noch nicht Ausgeführtem klingen. Die Prägnanz dieser Passagen ist überraschend, in seinen besten Momenten erreicht Becce eine dem Film völlig gleichgestellte Anschmiegsamkeit der Musik, die ungezwungen und intelligent mit ihren Motiven und Einsprengseln die visuellen Ereignisse umkreist.” Was in der neu entstandenen Pasticcio-Komposition transparent bleibt, ist die Becce-typische Kompilationstechnik, indem Detlev Glanert mit den vorhandenen Zitaten (z.B. dem Hochzeitsmarsch) spielt. Ausgehend von diesem Vorrat an Themen und funktionalen Verbindungen hat Detlev Glanert eine Bearbeitung vorgenommen, mit der er - nach fast 80 Jahren - das umzusetzen und zu vollenden versucht, was Becce als individuelle, expressive Begleitmusik zu diesem Klassiker des deutschen Stummfilms vorschwebte.

Der letzte Mann

Filmmusik für Orchester von Giuseppe Becce / Detlev Glanert (Rekonstruktion und Bearbeitung (2002)

Besetzung:

1+1/pic.1+1/ca.2.1+1/cbsn – 2.2.1.0 – timp.2perc – pno/ hrm – Streicher (6.5.4.3.2)

Luciano Berriatúa, der 2003 im Auftrag der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, den Film in einem photochemischen Verfahren restaurierte, entdeckte im Zuge seiner Arbeiten, dass von DER LETZTE MANN ursprünglich drei Originalnegative existierten: ein Negativ für Deutschland, eines für den allgemeinen Export und ein drittes für die USA.

Die amerikanische Fassung (The Last Laugh) ist fast vollständig in einer Nitro-Kopie überliefert, die Mitte der 20er Jahre durch eine New Yorker Firma für den Verleih in Australien gezogen und nun in Canberra aufgefunden wurde.

Ausgangsmaterial für die Restaurierung der deutschen Fassung und der Exportversion war das im Bundesarchiv-Filmarchiv Berlin erhaltene Kamera-Negativ, sowie eine historische Nitro-Kopie aus dem Museum of Modern Art, New York. Beide Materialien entsprechen nicht mehr der Originalmontage des Films, da die Ufa 1936 im deutschen Negativ und im Exportnegativ Veränderungen vorgenommen und die zwei Fassungen vermischt hatte. Beide Materialien ergänzen sich aber und stellten damit ein optimales Ausgangsmaterial für die Restaurierung dar. Zusätzlich wurden Einstellungen aus einer Kopie der Cinémathèque Suisse verwendet. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um die Zwischentitel bzw. um Einstellungen, die deutsche Texte im Bild enthalten.

Mit diesen Materialien konnten die beiden Originalnegative, die für Deutschland und für den Export vorgesehen waren, identifiziert und in ihrer originalen Schnittfolge rekonstruiert werden; als sehr hilfreich erwiesen sich dabei die verschiedenen Einstellungs-Nummerierungen (gekratzt oder mit Tusche am Perforationsrand). Da für die Restaurierung Nitromaterialien des Originalnegativs oder Kopien der ersten Generation zur Verfügung standen, liegen die drei Negative und Schnittfassungen nun in bestmöglicher Bildqualität wieder vor. Diese Fassung wurde im Jahr 2012 digitalisiert.

Der Komponist Giuseppe Becce

1877 in Oberitalien geboren, kam um 1900 als Geografie-Student nach Berlin, studierte dort Musik und debutierte 1910 als Komponist von Opern und Operetten. Über den Filmproduzenten Oskar Messter ergab sich ein erster spektakulärer Kontakt zum Film: Becce spielt 1913 Richard Wagner in der gleichnamigen Messter-Produktion und komponiert in seinem Stil die Filmmusik, was Messter wiederum hohe Lizenzen an die Wagner-Erben erspart.

Von da an beginnt Becces einzigartige Karriere als Filmmusiker und Musik-Theoretiker. Er arrangiert zahllose Illustrationsmusiken, schreibt Lieder und Motive und ist als Dirigent an den führenden Uraufführungs-Kinos Berlins tätig: von 1915 bis 1923 leitet er für die Messter-Filmproduktion das Orchester im Mozartsaal, 1922 übernimmt er das Orchester des Ufa-Pavillons am Nollendorfplatz, ab 1923 dirigiert er zusätzlich am Tauentzien-Palast und ab 1926 im Gloria-Palast. Aus der Stummfilmzeit sind einige Originalkompositionen von Becce überliefert; seine wichtigsten sind neben der schon erwähnten Richard Wagner-Musik die Kompositionen für die beiden Murnau-Filme Der letzte Mann (1924) und Tartüff (1925). Eingegangen in die Geschichte der Filmmusik ist er auch wegen seiner ‚Kinotheken‘: Sammlungen von Musikstücken für den Einsatz im Kino (Klavier oder Orchester), die ab 1918 erschienen sind. 1927 veröffentlicht er zusammen mit Hans Erdmann das zweibändige ‚Allgemeine Handbuch der Filmmusik‘, eine Sammlung von ca 3000 Musik-Stücken, die zur Begleitung stichwortartig beschriebener Filmsituationen vorgeschlagen werden.

Ab 1930 entstehen die ersten Tonfilmmusiken; Becce erprobt sich erfolgreich in verschiedenen Filmgenres, komponiert bis ins hohe Alter über 100 Filmmusiken; populär sind vor allem die von ihm vertonten Bergfilme, wie das Blaue Licht (1931, Leni Riefenstahl), die Tonfilmfassung von Die weiße Hölle vom Piz Palü (1935, Arnold Fanck), sowie Berge in Flammen (1931) und Der Feuerteufel (1939/40) von Luis Trenker, mit dem er auch nach dem 2. Weltkrieg viel zusammenarbeitet. Von da an vertont er, bis Ende der 50er Jahre, fast nur noch Heimat- und dokumentarische Bergfilme. Becce stirbt 1973 mit 96 Jahren in Berlin.

Geboren 1960 in Hamburg.1981-1988 Kompositionsstudium bei Diether de la Motte, Günter Friedrichs und Frank Michael Beyer, davon vier Jahre bei Hans Werner Henze in Köln. 1989-1993 ständiger Mitarbeiter des Cantiere Internazionale D‘Arte in Montepulciano (Italien), 1993 Stipendiat der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom. 1993 Rolf-Liebermann-Opernpreis für Der Spiegel des großen Kaisers. 2001 Bayrischer Opernpreis für die UA der Oper Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung in Halle.

Seitdem verfolgt Detlev Glanert eine bemerkenswerte Karriere als Opern- und Konzertkomponist und zählt zu den meistgespielten lebenden Opernkomponisten in Deutschland. Seine Opern-, Orchester- und Kammermusik offenbart Gespür für eine besonders lyrische musikalische Sprache und eine Verbundenheit mit der Tradition, die aus einem zeitgenössischen Blickwinkel neu beleuchtet wird. Allein in der Saison 2020/21 stehen drei neue Opernproduktionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf den Spielplänen sowie zwei Uraufführungen in Glasgow und Prag. Glanerts Werke wurden in jüngerer Zeit u.a. von den Wiener Philharmonikern, vom Gewandhausorchester Leipzig, den Berliner und Münchner Philharmonikern, vom Royal Concertgebouworkest, von der Tschechischen Philharmonie, vom Philadelphia Orchestra, vom Baltimore Symphony Orchestra, vom Toronto Symphony Orchestra, vom Orchestra del Teatro Regio, vom Orchestre National de France, von den Bamberger Symphonikern, von der NDR Radiophilharmonie und vom WDR Sinfonieorchester Köln aufgeführt.

Friedrich Wilhelm Murnau ist der wohl bedeutendste deutsche Filmregisseur der Stummfilmzeit, ein Visionär des Kinos. Murnau arbeitete zunächst im Theater von Marx Reinhardt. 1919 inszenierte er mit Der Knabe in Blau seinen ersten Film und etablierte sich als produktiver Regisseur. Bis 1922, dem Jahr der Uraufführung von Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens drehte Murnau in nur drei Jahren zehn Filme, von denen sieben verschollen oder nur als Fragment erhalten sind. Dann folgten die Filme, die bis heute die Strahlkraft des Weimarer Kinos ausmachen: Phantom (1922), Die Finanzen des Großherzogs (1924), Der letzte Mann (1924), Tartüff (1925) und Faust (1926). Ab 1927 arbeitete er in den USA. Dort entstanden Sunrise (1927), Four Devils (1928, verschollen) und City Girl (1930). Im gleichen Jahr entstand Tabu, dessen Uraufführung Murnau nicht mehr miterlebte.


Credits

  • Regie:
    Friedrich Wilhelm Murnau
  • Drehbuch:
    Carl Meyer
  • Kamera:
    Karl Freund
  • Bauten:
    Robert Herlth, Walter Röhrig
  • Schauspieler:
    Emil Jannings (Hotelportier), Maly Delschaft (Nichte des Hotelportiers), Max Hiller (Bräutigam der Nichte), Emilie Kurz (Tante des Bräutigams), Hans Unterkircher (Geschäftsführer des Hotel), Olaf Storm (junger Gast), Hermann Vallentin (spitzbäuchiger Gast) Georg John (Nachtwächter), Emmy Wyda (hagere Nachbarin) u.v.a.
  • Restaurierung (2003), Digitalisierung (2012):
    Luciano Berriatúa (i.A. Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung)
  • Musik:
    Giuseppe Becce (Originalkomposition 1924)
    Detlev Glanert (Rekonstruktion im Auftrag von ZDF/ARTE, 2003)
  • Redaktion:
    Nina Goslar
  • ausführender Produzent:
    Thomas Schmölz (2eleven music film)

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