Die Gezeichneten
Die Gezeichneten
Deutschland 1922, 95 Minuten | s/w
Gedreht mit aufwendiger Ausstattung und einem beeindruckenden Heer von Statisten, wobei die Besetzung hauptsächlich aus russischen Exilschauspielern besteht, ist "Die Gezeichneten" nicht nur ein historisches Dokument, sondern zugleich ein hochaktuelles Werk. Der Film thematisiert Ausgrenzung und Hass gegenüber Minderheiten und erzählt die Geschichte von Menschen, die zwischen revolutionären Konflikten und gesellschaftlicher Intoleranz stehen.
Russland um 1905, am Vorabend der ersten russischen Revolution. Auf dem Land kündigt sich der historische Umbruch an, noch aber herrschen tiefsitzende Ressentiments, insbesondere gegen die jüdische Bevölkerung. Die junge Jüdin Hanne-Liebe Segal verlässt ihr Heimatdorf und hofft, bei ihrem Bruder Jakow in St. Petersburg unterzukommen; er ist zum Christentum konvertiert, um in der Stadt als Anwalt arbeiten zu können. Dort trifft Hanne-Liebe ihren alten Freund Sascha wieder, der sich einer revolutionären Gruppe angeschlossen hat. Zu dieser gehört der undurchsichtige Rylowitsch, der seine Genossen an die russischen Behörden verrät und als Wandermönch antisemitische Hetze betreibt. In Hannes Heimatdorf löst Rylowitsch ein Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung aus. Hanne-Liebe und Jakow geraten in die gewaltsamen Ausschreitungen, als sie in ihr Dorf kommen, da ihre Mutter im Sterben liegt. Jakow wird von Rylowitsch erschossen, Hanne-Liebe wird in letzter Sekunde von Sascha gerettet.
Bei seiner Verfilmung folgt Dreyer zum Teil sehr getreu dem 1914 erschienenen dänischen uns damals auch in Deutschland sehr populären Roman ELSKER HVERANDRE / DIE GEZEICHNETEN von Aage Madelung. Er zeichnet ein präzises Bild der Kräfte und Bewegungen, die in der russischen Gesellschaft am Vorabend der bürgerlichen Revolution von 1905 virulent waren, und konkretisiert diese am Schicksal von fünf jungen Menschen, die sich im Strudel der historischen Ereignisse begegnen, finden und verlieren.
Gedreht wurde der Film in der Nähe von Berlin. In Groß-Lichtenfelde wurde ein veritables Russen- und Judenviertel errichtet, noch heute beeindruckt der Film durch seine authentisch wirkenden Szenen des russischen Lebens. Authentizität bekam der Film auch durch die Mitwirkung prominenter exilierter Schauspieler aus dem damaligen Russland, wie von Polina Piekowskaja (Korsha-Theater, Moskau) oder Vladimir Gajdarov (Künstlertheater Moskau). Für die Massenszenen wurden russische und jüdische Komparsen aus Berlin und Umgebung engagiert, oft Flüchtlinge, von denen noch keiner vor einer Kamera gestanden hatte; so brachten die meisten Mitwirkenden ihre Exilerfahrung in den Film ein.
Drei thematische Komplexe durchmisst Bernd Thewes Musik in einer stetigen Pendelbewegung – entsprechend den drei Welten, die in den GEZEICHNETEN unversöhnlich aufeinander treffen: das ländliche, orthodoxe Russland mit seinem tief sitzenden Antisemitismus; die revolutionär gestimmte Jugend und drittens das aufgeklärte Bürgertum, verkörpert in Hanne-Liebes Bruder Jakow.. Dementsprechend pendelt die Musik zwischen Zitaten jüdischer und russischer Volksmusik auf der einen und einer ‚abstrakten’ Klangwelt auf der anderen Seite, befreit von Melodie und periodischer Rhythmik; und zwischen beiden erklingt immer wieder ein Bereich der freitonalen konzertanten Musik.
Ein weiterer Aspekt wird musikalisch unterstützt: der Aspekt der Erinnerung als einem für die jüdische Kultur zentralen Topos. Die musikalische Umsetzung besteht im Einsatz einer Mehrkanal-Zuspielung, bei der das Trio (Flöte, Violoncello, Klavier) in zwei virtuelle Klangräume vervielfältigt wird: der eine Klangraum entsteht durch eine Mikrofonierung nah an den Instrumenten, der andere Klangraum simuliert eine größere Entfernung. Dieser „Fernklang“ ist immer verbunden mit Aspekten des Erinnerns, analog zu den Zitaten jüdischer Musik, die quasi von etwas Vergangenem erzählen. Der „Nahklang“ hingegen – bei dem auch geräuschhafte Artikulationen der Instrumente zum Einsatz kommen – steht im Zusammenhang mit Aspekten der subjektiven und objektiven Verdrängung.
Der Komponist über seine Musik: „Ausgehend von dem Konflikt-Dispositiv, das der Film aufzeichnet und in der Figur von Jakow verdichtet, habe ich mir darüber Gedanken gemacht, wie sich so etwas mit Musik in Zusammenhang bringen ließe. Ich wollte die Musik weder ausschließlich auf eine Funktion der passenden Klangkulisse noch auf ein paralleles Ausmalen der Handlungsdramatik hin ausrichten, also weder impressionistisch noch expressionistisch. So verfiel ich auf den Gedanken, nicht von der Bedeutung einzelner musikalischer Gestalten auszugehen. Um das zu vermeiden, suchte ich Bedeutungen nicht in Gestalten zu fixieren, sondern in Relationen sich entwickeln zu lassen.“
Bernd Thewes
Die Gezeichneten
eine transfolkloristische Suite für Flöte, Violoncello, Klavier und Akkordeon
nach dem gleichnamigen Film von Carl Theodor Dreyer (1922)
unter Verwendung von osteuropäisch jüdischen und russischen Volksweisen
Verlag: © 2022 2eleven edition musiQ
Von der deutschen Uraufführungsfassung sind keine Materialien erhalten; überliefert ist lediglich die um 30 Minuten kürzere sowjetrussische Exportversion des Films, die in verschiedenen europäischen Filmarchiven dupliziert vorhanden ist. Basis der Restaurierung war eine Nitrokopie der Cinémathèque de Toulouse. Die Zwischentitelfassung folgt dem Wortlaut einer schwedischen Zensurliste und dem Drehbuch von Carl Theodor Dreyer, das sich in Dänemark erhalten hat.
Carl Theodor Dreyer gilt als einer der großen Meister des Kinos. - Geboren 1889 als uneheliches Kind einer schwedischen Dienstmagd in Kopenhagen, wird er 1891 durch einen streng protestantischen Schriftsetzer adoptiert. Nach erfolglosen Versuchen als Cafémusiker und Buchhalter arbeitet Dreyer ab 1910 als Sportjournalist, 1912 wird er freier Mitarbeiter bei der Nordisk Film. Der Tätigkeit als Cutter und Drehbuchautor folgt das Regiedebüt mit Præsidenten/Der Präsident (1918/19). Bis zum Ende der Stummfilmzeit entstehen 5 weitere Filme, darunter Die Gezeichneten (1921), Michael (1924) und La passion de Jeanne d'Arc (1928), ein Höhepunkt in der filmischen Arbeit Dreyers.
Als sein erster Tonfilm Vampyr (1931/32) beim Publikum und der Kritik auf Desinteresse stößt, zieht sich Dreyer für zehn Jahre aus dem Filmgeschäft zurück. Während der deutschen Okkupation entsteht Vredens Dag / Tag der Rache (1943). Dreyers Werk über Glauben und Toleranz vor dem Hintergrund der Hexenverfolgungen verweist allzu deutlich auf die Besetzung Dänemarks durch Deutschland. Aus Angst vor Inhaftierung emigriert der Regisseur nach Schweden und dreht dort Två människor / Zwei Menschen (1945). Seine beiden letzten Filme sind Ordet / Das Wort (1955) und Gertrud (1964). 1968 stirbt Dreyer, ohne sein größtes, über Jahre entworfenes Projekt, die Verfilmung des Lebens Jesu, realisiert zu haben.
Bernd Thewes studierte Schulmusik in Saarbrücken und Musikwissenschaften in Mainz. Sein Oeuvre umfasst Kompositionen für Solo- und Orchesterbesetzungen, radiophone Projekte, Oper, Klanginstallation und elektronische Musik. Die meisten seiner Werke werden mit führenden Solisten der Neuen Musik wie Dirk Rothbrust, Mike Svoboda, Andreas Boettger, Stefan Hussong, Irmela Roelcke oder Ueli Wiget uraufgeführt und für Rundfunk, CD-Aufnahme oder Fernsehen eingespielt. - Für ARTE realisierte er mehrere Filmmusik-Projekte, u. a. die Bearbeitung von Richard Strauss Filmmusik zum Rosenkavalier (Erstaufführung in der Semperoper Dresden 2006 mit der Staatskapelle Dresden) und die Orchestrierung von Edmund Meisels Klavierauszug zu Berlin. Die Sinfonie der Großstadt. (Jubiläumsaufführung im Friedrichstadtpalast Berlin mit dem RSB, 24.09.2007).
Aage Madelung war dänischer Schriftsteller deutscher Abstammung. Während vieler Reisen, die ihn unter anderem nach Russland führten, verarbeitet er in Erzählungen, Novellen und Romanen seine vielfältigen Eindrücke in besonders realistischer Weise. Ungeklärt ist der Einfluss auf den Roman DIE GEZEICHNETEN durch seine Frau, die lange Zeit in Russland lebte und dort auch ein Pogrom miterleben musste. Das Buch erlangte internationales Ansehen und wurde teilweise sogar ins Jiddische übersetzt unter dem Titel Groyns Tuml (Während des Großen Umbruchs).
Werke: Der Sterlett. Novellen, 1913, Jagd auf Tiere und Menschen, 1915, Aus Ungarn und Galizien, 1916, Die Gezeichneten, 1918, Zirkus Mensch, 1918, Das unsterbliche Wild, 1924, Das Gut auf dem Mond. Eine Robinsonade, 1929
Credits
- Regie:
Carl Theodor Dreyer - Buch:
Aage Madelung - Kamera:
Friedrich Weinmann - Bauten:
Jens G. Lind - Kostüme:
Leopold Verch, Willi Ernst, Karl Töpfer - Produktion:
Primus Film Berlin - Darsteller:
Polina Piekowskaja (Hanne-Liebe), Thorleif Reiss (Sascha), Vladimir Gajdarov (Jakow Segal), Johannes Meyer (Rylowitsch), Richard Boleslawski (Fedya), Adele Reuter-Eichberg (Hanne-Liebes Mutter) - Restaurierung (2006):
Dänisches Filminstitut Kopenhagen - Musik (2008):
Bernd Thewes (i.A. des ZDF) - Redaktion:
Nina Goslar - Produzent:
Christian Schwalbe