Die Weber
Die Weber
Deutschland 1927, 97 Minuten | s/w
Friedrich Zelniks Film entstand frei nach dem naturalistischen Bühnenklassiker Die Weber, George Grosz zeichnete die Zwischentitel und setzte mit der graphischen Gestaltung der Credits am Beginn des Films ein starkes Fanal. Mit seiner vom damaligen sowjetrussischen Kino beeinflussten Bildsprache traf der Film den Nerv der Zeit, die von starker wirtschaftlicher und sozialer Instabilität geprägt war, und ist insofern ein höchst aktueller Film.
Für einen Hungerlohn arbeiten schlesische Weber in Heimarbeit für Fabrikant Dreißiger (Paul Wegener). Der droht Lohnsenkungen an und verweist auf die Konkurrenz durch die neuen mechanischen Webstühle. Moritz Jäger (Wilhelm Dieterle) hat durch seinen Militärdienst Einblick in die sozialen und politischen Verhältnisse außerhalb Schlesiens gewonnen und ruft die Arbeiter zum Widerstand auf. Ihm droht Verhaftung, die die Weber verhindern können. Sie stürmen die Fabrikantenvilla, Dreißiger flieht. Die Weber der Nachbardörfer solidarisieren sich. Gemeinsam zerstören sie die Maschinen und wehren das Militär ab, das gegen die rebellischen Weber eingesetzt wird. Nur der alte Weber Hisse (Arthur Krausneck), der immer schon gegen einen Aufstand war, wird von einer Kugel getroffen und bricht am Webstuhl zusammen.
Friedrich Zelnik, in der Filmgeschichte bekannt als Regisseur von kommerziellen Unterhaltungsfilmen, überraschte mit der Verfilmung von Gerhart Hauptmanns Sozialdrama; sein Film gilt bis heute als eine der besten Hauptmann-Adaptionen.
Wie Michael Hanisch schreibt, beschäftigte Zelnik mit der versierten Filmautorin Fanny Carlsen und dem bekannten Literaten und Kritiker Willy Haas ein solides Autorenteam. »Vor allem Willy Haas, der u.a. an Murnaus Der brennende Acker, Pabsts Die freudlose Gasse oder Grunes Die Brüder Schellenberg mitgearbeitet hat, kann als Drehbuchautor einen gehörigen Anteil am künstlerischen Erfolg dieses Films beanspruchen, der sehr viel mehr ist als reine Routinearbeit eines erfahrenen Regisseurs.« Friedrich Zelnik konzentriert sich in seiner Inszenierung auf ausdrucksstarke Bilder und Schauspieler, die lt. einer zeitgenössischen Kritik „in manchen Momenten den Typenreichtum der Russen“ erreichen. Die Sozialkritik des Films teilt sich agitatorisch in den von George Grosz gezeichneten Credits mit: den Schauspieler-Portraits zu den einzelnen Rollen werden Tierkarikaturen beigestellt, die den Fabrikanten Dreißiger als Schwein, seine Frau als Henne, Pfeiffer als Hyäne, und den Pfarrer als Papagei darstellen. Gleichwohl bleibt der Film skeptisch, was die Perspektiven des verzweifelten Weber-Aufstands betrifft, und endet mit einem Bild der Leere und Vergeblichkeit.
Die orchestrale Filmmusik zu diesem Klassiker des Weimarer Kinos schrieb Johannes Kalitzke. Als Ausgangsmaterial dienen Elemente genretpyischer Musik wie Arbeiterlieder, Märsche und Volksmusik. Diese Elemente verarbeitet er zu einer komplexen rhythmischen Textur und aktiviert damit die Wahrnehmung des Films. Denn die Musik funktioniert sowohl im assoziativen Fluss mit den Filmbildern wie auch als Freilegung der latenten Konfliktlinien. Sie porträtiert nicht Personen, sondern Situationen und vor allem: deren allmähliche Verwandlung und Verzerrung in ihr Gegenteil - ganz wie im Drama, das die Grenzen des menschlichen und politischen Handelns hinterfragt und zeigt, wie aus Opfern Täter werden können.
Damit durchstößt die Musik die Oberfläche der filmischen Erzählung und eröffnet einen neuen Erfahrungsraum, der die heutige Rezeption einbezieht. In einer höchst raffinierten Verfremdung durch die Möglichkeiten der Live-Elektronik (z.B. gesampelte Töne von Webmaschinen) schafft die Musik einen suggestiven Klangraum, der zusätzliche Verfremdungseffekte dieser Grundtypen produziert. Das Orchester spielt in einer Kammerorchester-Besetzung, in der Instrumente Platz finden, die sonst nicht zum Orchesterkern gehören: Saxophon, Akkordeon, eine zweite Harfe, sowie ein Sampler.
Johannes Kalitzke
Die Weber
Musik zum Stummfilm von Friedrich Zelnik (1927)
Besetzung für Orchester
2.1.1.bKla(KbKla).A-Sax.1KFag – 2.1.1.1 – Schlagzeug(2), Harfe(2), Klavier, Sampler, Akkordeon – Streicher
Verlag: © 2011 Bote & Bock Berlin
Die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung hat den Film bei ihrer Restaurierung weitestmöglich vervollständigt. Das wichtigste Ausgangsmaterial war eine um gut 100 m gekürzte österreichische Verleihkopie aus dem Deutschen Filminstitut Filmmuseum Frankfurt. Drastische Szenen, wie die, in der Baumert seinen Hund schlachten lassen will, fehlen hier oder sind durch Kürzungen zurückgenommen, so etwa die Verwüstung der Wohnung des Fabrikanten Dreißiger durch die Weber.
Diese Kopie enthält neben dem Personenverzeichnis mit den personifizierten Tierköpfen von George Grosz die originalen, expressionistisch gestalteten Zwischentitel. Anhand einer 16mm Kopie mit deutsch-französischen Zwischentiteln aus der Cinémathèque Suisse in Lausanne konnten fehlende Zwischentitel ergänzt werden. Fehlende Szenen wurden durch eine niederländische Kopie aus dem EYE Film Institute in Amsterdam ergänzt werden.
Friedrich Zelnik (1885-1950) stammt aus Czernowitz. Nach einem Jurastudium in Wien geht er 1910 zum Film, arbeitet zunächst als Schauspieler, dann zunehmend als Regisseur und Filmproduzent seiner Firma Film-Manufaktur, die 1917-1922 ca. 120 Filme produziert. Seine Filme sind meist Unterhaltungsfilme, die grössten Erfolge der Stummfilmzeit: An der schönen blauen Donau, Die Försterchristel, Das Tanzende Wien. Sein wichtigster Film Die Weber nach Gerhart Hauptmann fällt aus dem Rahmen seines sonstigen Schaffens und bescherte ihm gute Kritiken. 1933 emigriert er nach London, wo er als Frederic Zelnik weiter Filme machte.
Als Komponist und Dirigent zählt Johannes Kalitzke (*1959 in Köln) zu den produktivsten Vertretern der deutschen Neuen Musik, international bekannt aufgrund seiner konstanten Mitwirkung bei den europäischen Festivals für Neue Musik in Berlin, Warschau, Donaueschingen oder Straßburg. Sein reichhaltiges Werkverzeichnis umfasst neben Instrumentalmusik inzwischen neun Opern, die seit Beginn der 1990-er Jahre an großen Häusern und bei bedeutenden Festspielen aufgeführt werden, u. a. bei der Münchner Biennale (Bericht über den Tod des Musikers Jack Tiergarten), am Theater Bremen (Molière oder die Henker der Komödianten und Inferno), der EXPO 2000 (Nachricht an Charon), Theater an der Wien (Die Besessenen). Johannes Kalitzke war Stipendiat der Villa Massimo in Rom und erhielt den Bernd-Alois-Zimmermann-Preis der Stadt Köln.
Credits
- Regie:
Friedrich Zelnik - Buch:
Fanny Carlsen, Willy Haas nach Gerhart Hauptmann - Kamera:
Frederik Fuglsang, Friedrich Weinmann - Grafische Gestaltung:
George Grosz - Originallänge:
2660m = 97’ bei 24 fps - Darsteller:
Paul Wegener (Fabrikant Dreißiger), Valeska Stock (Frau Dreißiger), Hermann Picha (Baumert), Camilla von Hollay (Tochter Bertha Baumert), Hans Heinrich von Twardowski (Sohn Gottlieb Hülse), Arthur Kraußneck (Alter Weber Hilse), Wilhelm Dieterle (Moritz Jäger), Theodor Loos (Weber Bäcker) - Restaurierung (2012):
Friedrich Wilhelm Murnau Stiftung, Wiesbaden - Musik (2012):
Johannes Kalitzke
Auftragswerk Theaters Augsburg, Philharmonisches Orchester Augsburg, Konzerthauses Wien, Ensemble Modern - Redaktion:
Nina Goslar - Ausführender Produzent:
Thomas Schmölz (2eleven music film)