Erde
Erde
RUS/UdSSR 1930, 78 Minuten | s/w
Der Film zählt zu den Klassikern des ukrainischen Kinos und gilt als Dowschenkos Meisterwerk; ein Film von besonderer ästhetischer Originalität, der den Stil von Tarkowskij und Paradshanow vorwegnimmt. (Bryony Dixon: 100 Silent Films, BFI 2011)
In einem ukrainischen Dorf hat die Kooperative einen Traktor angeschafft. Der junge Traktorist Wassil reißt mit dem Pflug die Raine der alten Gemarkungen ein; darauf wird er in der Nacht vom Sohn eines Kulaken erschossen. Die Dorfbevölkerung gibt ihm ein feierliches Begräbnis, indes sich der Mörder verzweifelt im Staube wälzt.
Seinen exponierten Platz in der Filmgeschichte behauptet ERDE aufgrund seiner starken Bilder, mit denen Dowshenko den ewigen Kreislauf von Lebens und Sterben beschwört. Der Film kulminiert in der Begräbnisszene und in den Bildern der fruchtbaren ukrainischen Landschaft und einer üppigen Natur im Regen: »Bilder eines lyrischen Tons und von einer geradezu explosiven Gewalt, in denen sich der Triumph der Natur über den Tod ausspricht. Dieser Triumph ist zugleich der des Menschen über sein Schicksal und über die Macht der Verhältnisse.« (nach Enno Patalas/Ulrich Gregor: Geschichte des Films, Gütersloh 1962)
Wie Eisensteins Generallinie, steht Erde im historischen Kontext des ersten sowjetischen Fünf-Jahres-Plans (1928-1933), der eine umfassende Kollektivierung der Landwirtschaft verordnete und der gerade in der Ukraine mit äußerster Gewalt exekutiert wurde. Hundertausende landbesitzende Bauern wurden enteignet, umgesiedelt und zu Zwangsarbeit verurteilt. Dowschenko personifiziert den Klassenkampf auf dem Land in der tödlich endenden Auseinandersetzung zwischen dem charismatischen Wassil vom neu gegründeten Dorfsowjet und dem tumben Sohn eines wohlhabenden Bauern. Für die linke Filmkritik fiel die Parteinahme für die Zwangskollektivierung nicht stark genug aus. Erde wurde am 8. April 1930 in den Kiewer Kinos gestartet – und nur neun Tage später wegen Vorwürfen von ‹Biologismus› und Naturalismus verboten.
Einige Zeit später kam Erde in einer um ca. 4 Min. gekürzten Fassung wieder in die Kinos. Dabei betrafen die Schnitte vor allem die Szenen, die der Prüderie der Zensoren zum Opfer gefallen waren. Belegt sind die Entfernung der Szene, in der Wassili Kameraden in den Kühler des Traktors pinkeln, um die Maschine wieder zum Laufen zu bringen, der Passage, in der Wassils Mutter ein Kind zur Welt bringt, sowie der Sequenz, in der sich Wassils Freundin aus Schmerz über seinen Tod die Kleider vom Leib reißt und nackt durch ihr Zimmer taumelt. Auch für Eisenstein war das „nackte Weib“ im Kontext eines Films über die Kollektivierung ein „Fremdkörper“. Diese Passagen sind in der restaurierten Fassung wieder erhalten.
Von der in der Filmographie angegebenen Begleitmusik von Leonid Revutski sind keine Materialien überliefert. Popovs Musik für Erde hat viele Referenzen zur Musik der frühen sowjetischen Avantgarde, wie Schostakovitsch und Molosov, die Popov mit minimalistischen Techniken weiterführt. Er folgt sehr eng der Dramaturgie des Films, dessen Aufbau Popov selbst wie eine klassische Sinfonie beschreibt. Seine Musik ist atmosphärisch und erzählerisch, ohne auf stereotype Klangbilder illustrativer Filmmusik zurückzugreifen; sie bringt das zum Erklingen, was in der Montage und im Bildaufbau des Films selbst an musikalischen Abläufen angelegt ist.
„Und ‘klingen’ muß vor allem die Landschaft ...“ schreibt Sergej Eisenstein über Filmmusik in Eine nicht gleichmütige Natur: „... warum braucht man unbedingt Musik? Warum wird hier von der Musik als von etwas von vornherein, a priori Notwendigem und im Film Selbstverständlichem geredet? Die Antwort scheint mir ziemlich klar. Es geht weniger um die Verstärkung der Wirkung (des Bildes), als vielmehr um die emotionale Weiterführung dessen, was mit anderen Mitteln nicht auszudrücken ist.“
Alexander Popow
Земля (Earth)
Musik für Ensemble (1997) zum gleichnamigen Film von Alexander Dovzhenko (1930)
Besetzung:
1(auch Picc).1.1(auch BKla).1 – 1.1.1.0 – 2 Schlagzeug, Harfe, Klavier – Streicher (1.1.1.1.1)
Schlagzeug 1
Timpani, Snare Drum, Bass Drum, Bongs, Flexatone, Tubular Bells, Wood Blocks, Triangle, Ratchet, Sleigh Bells, Vibraphone, Marimba, Suspended Cymbal, Tam-tam
Schlagzeug 2
Wood Blocks, Claves, Triangle, Ratchet, Tubular Bells, Sleigh Bells, Tambourine, Vibraphone, Xylophone, Glockenspiel, Marimba, Suspended Cymbal (small and normal), Tam-tam
Alexander Popov (*1957) begann mit 17 Jahren ein Kompositions-Studium, das ihn später an das St. Petersburger Konservatorium führte. Zeitgleich nahm er das Studium der Medizin auf, das er 1980 abschloss. Bis letztes Jahr übte Alexander Popov beide Berufe nebeneinander aus. 1988 graduierte er am Komponisten-Kolleg des St. Petersburger Konservatoriums.
Alexander Popov hat zahlreiche Kompositionen verfasst, die auch in Westeuropa, den U.S.A. und Neuseeland zur Aufführung gebracht wurden. Die wichtigsten Titel sind Sinfonia Brevis (für Orchester), Passio (für französisches Horn, Orgel und Percussion), Von Leben und Tod (Zyklus für Sopran und Orchester), Requiem (für 4 Stimmen und ein Ensemble für Alte Musik), Sinfonia da Camera in memoriam Frescobaldi, Affektenlehre (Symphonie für 12 Musiker), sowie die Musiken zu zwei Filmen des renommierten russischen Regisseurs Viktor Kossakowsky: Sreda (1997) und ¡Vivan las Antipodas!(2011) und dem Stummfilm Johan (2000). Daneben entstanden Auftragsarbeiten für das Ensemble Alea III (Boston), das Solisten-Ensemble des Mariinskij Theaters (St. Petersburg) und das Ensemble Musiques Nouvelles (Brüssel).
Im reichen Kosmos der sowjetrussischen Filmszene nimmt Alexander Dowschenko, 1894 in einer ukrainischen Bauernfamilie geboren, eine Sonderstellung ein. Dowschenko arbeitet zunächst als Lehrer und erlebt den Bürgerkrieg in der Ukraine, auf deren Terrain die Weißen Garden die Bolschewisten in Moskau bekämpfen. Dowschenko engagiert sich für die Revolution und wird zum diplomatischen Dienst nach Warschau und Berlin delegiert, wo er kurzzeitig die Kunstakademie besucht und bei Erich Heckel studiert. Als er 1923 zurückkehrt, herrscht in der Ukraine auf kulturellem Sektor eine erstaunliche Liberalität. In Charkow, damals Hauptstadt der Ukraine, blüht die Literatur als Ausdruck eines starken ukrainischen Nationalbewußtseins. Bis 1926 arbeitet er als Journalist, Maler und Schriftsteller und beginnt erst relativ spät, mit 32 Jahren, seine Karriere als Regisseur und Filmautor.
In Odessa dreht Dowschenko seine ersten drei Filme, Komödien und Slapstick. Seinen ersten großen Erfolg hatte Dowschenko mit Svenigora (1928), den auch Sergej Eisensein hinreißend findet. Mit Arsenal (1929), einer Studie über die ukrainische Geschichte der Jahre 1914 bis 1917, entsteht ein weiteres Meisterwerk sowjetischer Filmkunst. Mit Erde gerät Dowschenko 1930 unversehens in das Kreuzfeuer der Kritik, die den Film als ‚konterrevolutionär‘ und ‚defätistisch‘ verurteilt. Auch sein nächster Film, Iwan (1932) wird des ‚Biologismus‘und ‚Pantheismus‘ bezichtigt. Dowschenko bittet Stalin um persönlichen Schutz. So kann er am Staatlichen Filminstitut in Moskau unterrichten und dreht – neben einer Reihe von Dokumentarfilmen - in den nächsten zwanzig Jahren noch drei Spielfilme: Aerograd (1935), Stschors (1939) und Mitschurin (1948). Trotz seiner exponierten Ämter in den Kiewer Studios und bei der Filmgewerkschaft bleibt er nicht vor politischer Verfolgung verschont. 1944 wird er als ‘bourgeoiser Nationalist’ bezeichnet, seiner Ämter enthoben und mit Produktionsverbot belegt; sein Filmprojekt Mitschurin erlebt mehrfache Revisionen. Obwohl dieser Film 1949 mit dem Stalin-Preis ausgezeichnet wird, hat Dowschenko weiterhin Schwierigkeiten, seine Drehbücher zu realisieren. In seinem letzten Filmprojekt will er in einer Trilogie die Geschichte eines ukrainischen Dorfs erzählen, das durch die Errichtung eines Dnjepr-Staudamms überflutet wird. Einen Tag vor Beginn der Dreharbeiten stirbt Dowschenko am 26.11.1956 in Moskau.
Credits
- Regie, Drehbuch, Schnitt:
Alexander Dowshenko - Kamera:
Daniil Demuzki - Grafische Gestaltung:
George Grosz - Musik (2000):
Alexander Popow (i.A. ZDF/arte) - Darsteller:
Stepan Schkurat (Opanas, der Vater), Semjon Swaschenko (Wassili, sein Sohn), Julia Solnzewa (die Tochter), Jelena Maximowa (Natalja, Wassilis Verlobte), Pjotr Masocha (Choma, Sohn des Kulaken), I. Franko (der Kulak), Nikolai Nademskij (Grossvater Semjon), W. Michailow (der Priester) - Redaktion:
Nina Goslar - Ausführender Produzent:
Christian Schwalbe