Fait Divers

Frankreich 1923, 22 Minuten | HD-s/w-restaurierte Fassung


Fait-divers erzählt eine Amour-fou im Stil der Surrealisten: Zwei Männer, Monsieur Un und Monsieur Deux, konkurrieren um die geheimnisvolle Frau Madame Lara und versetzen mit ihrer erotischen Obsession eine ganze Stadt förmlich in Bewegung. Paris, die Stadt der Liebe und der Libertinage, spielt mit und ist in den rotierenden Straßenansichten, split-screens und verrückten Kamera-Perspektiven ein Spiegel der in Aufruhr versetzten Gefühlswelt. Mit Antonin Artauds, als einem der beiden Liebhaber, spielt eine Galionsfigur des Surrealismus mit, sein durchdringender Blick antizipiert Nadjas Augen im gleichnamigen Roman von André Breton, veröffentlicht 5 Jahre später. FAIT-DIVERS ist ein Pionierfilm des Surrealismus, woran auch Marcel l’Herbier als Produzent des Films seinen Anteil hat.

Mit 22 Jahren drehte Autant-Lara 1923 diesen avantgardistischen Erstling, ein Jahr nach Germaine Dulacs LA SOURIANTE MME BEUDET, im selben Jahr wie Fernand Légers LE BALLET MÉCANIQUE und ein Jahr vor René Clairs ENTR'ACTE. «Mit seinem ersten Film scheint Autant-Lara auf Anhieb alle Möglichkeiten der Grammatik des stummen Films auszuschöpfen; er verbindet Visualisierungen und Rhythmus zu einer zwingenden metaphorischen Kalligrafie.» (Freddy Buache, in: Travelling, Nr. 55, Lausanne 1979) Die zahlreichen Nahaufnahmen, Zeitlupen und Überblendungen sind typisch für die französische Avantgarde jener Zeit. Diese Knappheit der Ausdrucksweise, diese Bilder, die fast den Wert von Hieroglyphen haben, verzauberte Antonin Artaud, der den Film über die Werke Epsteins stellte, denn, so sagte er, wir finden weder "Fakten" noch "Anekdoten", sondern eine "Emotion der Bilder" "von absoluter Strenge". Der Filmtheoretiker Jean Epstein prägte den Begriff der Photogénie Anfang der 1920er Jahre, die für ihn das spezifische Element der Filmkunst sei, wie es beispielsweise bei der Farbe in der Malerei der Fall ist. Eine photogene Wirkung wird durch Großaufnahmen, Kamerafahrten oder das Spiel von Licht und Schatten erzeugt. Der Sehprozess der Kamera rückt dabei in das Zentrum der Aufmerksamkeit und das ästhetisch Besondere wird im Bild selbst angesiedelt.

Im Auftrag des ZDF in Zusammenarbeit mit ARTE schreibt der in Berlin lebende Komponist Malte Giesen eine neue Filmmusik für Streichtrio.

FAITS DIVERS wurde vom Centre National du Cinéma et de l'Image Animée (CNC) in Paris restauriert, ausgehend von den Originalnegativen der Filme aus der Sammlung Marcel L'Herbier.

Fait-divers

Musik für Streichtrio und Zuspielband (2021) von Malte Giesen zum gleichnamigen Film von Claude Autant-Lara

Besetzung:

Violine, Bratsche, Violoncello

2-Kanal - Zuspielband (fixed audio)

Malte Giesen (*1988) studierte Komposition und Computermusik an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, am CNSM Paris bei Gérard Pesson, an der HfM Berlin bei Hanspeter Kyburz und elektroakustische Musik bei Wolfgang Heiniger. Er unterrichtet zeitgenössische Improvisation an der HfM Karlsruhe und elektroakustische Musik an der HfM Hanns Eisler Berlin. Seine Werke werden im In- und Ausland aufgeführt (u.a. vom RSO Stuttgart, Sonar Quartet, Quatuor Diotima, ensemble recherche, Neue Vocalsolisten Stuttgart). Er gewann u.a. den Deutschen Musikwettbewerb 2009, Neue Szenen III der Deutschen Oper Berlin 2015, Kompositionspreis der Stadt Stuttgart 2017. 2018 war er repräsentativer Komponist Deutschlands im Rahmen des ECCO-Projekts der ECSA-Generalversammlung Brüssel.

Claude Autant-Lara wurde 1901 als Sohn des Architekten Edouard Autant und der Schauspielerin Louise Lara in Frankreich geboren. Aufgrund der pazifistischen Ansichten seiner Mutter (die ihn ebenfalls beeinflussten) lebte die Familie in England während des Ersten Weltkriegs. Anschließend studierte Autant-Lara Kunst an der École des Beaux Arts. Seine berufliche Laufbahn begann er als Ausstatter und Regie-Assistent im Theater, bald fasste er im Film Fuß. Er entwarf zusammen mit Fernand Léger und Alberto Cavalcanti die Bauten für Marcel L’Herbier’s L’INHUMAINE (1924) und war für die aufwendige Ausstattung und Kostüme von Jean Renoirs NANA (1926) verantwortlich. Mit FAIT-DIVERS (1923) gab er als 22-Jähriger eine erste Talentprobe für seine große kinematographische Begabung – mit Unterstützung von Marcel L’Herbier und seiner Mutter Louise Lara vor der Kamera. Nachdem Autant-Lara René Clair bei einigen Filmen assistierte, drehte er eine Reihe von Avantgarde-Kurzfilmen, darunter CONSTRUIRE UN FEU (1927), der erste Film, der durch die Verwendung des anamorphotischen Objektivs von Henri Chrétien eine Breitbildwirkung erzielte. Er arbeitete in den 1930er Jahren auch in den USA, seine bekanntesten Filme entstanden in den 1940er und 1950er Jahren wie die Verfilmung von Raymond Radiguets Roman LE DIABLE AU CORPS (1947), L'AUBERGE ROUGE (1951), LE ROUGE ET LE NOIR (nach Stendhal, 1954) oder LA TRAVERSÉE DE PARIS (1956). Im Februar 2000 starb Claude Autant-Lara im Alter von 98 Jahren.


Credits

  • Regie, Buch, Schnitt:
    Claude Autant-Lara
  • Kamera:
    Henri Barreyre
  • Darsteller:
    Louise Lara (Elle), Roland Barthet (M. Un), Antonin Artaud (M. Deux)
  • Restaurierung (2020/21):
    Lobster Film Paris
  • Musik (2021):
    Malte Giesen (Auftragswerk von ZDF und ARD/Degeto in Zusammenarbeit mit Arte)
  • Redaktion:
    Nina Goslar (ZDF), Regina Krachowitzer (ARD/Degeto)
  • Produzent:
    Thomas Schmölz (2eleven music film)

Stummfilmklassiker von Arte -

cineastische Musikerlebnisse für Ihr Publikum