Ménilmontant
Ménilmontant
Frankreich 1926, 43 Minuten | HD-s/w-restaurierte Fassung
Kirsanoff war einer der wenigen Regisseure der Stummfilmzeit, der ganz ohne Untertitel auszukommen versuchte: ein impressionistischer Film über das Leben in einem armen Arbeiterviertel am östlichen Rand von Paris. Kirsanoff gilt heute als einer der Vorläufer des französischen poetischen Realismus der frühen 1930er Jahre, mit dem Regisseure wie Jean Vigo, René Clair und Jean Renoir ihre Geschichten von kleinen Leuten erzählten.
Erzählt wird die Geschichte von zwei Schwestern, die als Waisen nach Paris kommen und sich zunächst mit kleinen Jobs durchschlagen. Verhängnisvoll wird für beide, dass sie sich in den gleichen Mann verlieben. Die jüngere Schwester wird schwanger und muss auf sich allein gestellt ihr Kind durchbringen, die ältere Schwester geht für den Mann anschaffen und landet in der Prosti-tution. Die Schwestern finden sich wieder und rächen sich auf ihre Weise an dem Verführer.
Menilmontant ist Autorenkino pur. Kirsanoff war für Regie, Buch und Schnitt zuständig, seine Freundin Nadja Sibirskaja spielt die Hauptrolle. Drehort ist das damals arme Arbeiterviertel Menilmontant im Osten von Paris. Von Beginn des Films an bricht Kirsanoff mit traditionellen Erzählperspektiven. In einer Akzelerationsmontage stellt er den barbarischen Doppelmord an den Eltern der beiden Mädchen als rein visuelles Ereignis dar, Kontext und Motive bleiben ungewiss. Hier wird nur die Sichtweise des filmischen Auges eingenommen und von dem Wissen der Figuren komplett losgelöst. Umso radikaler stellt sich die Gewalt dar - eine programmatische Setzung von Kirsanoff, der erklärt, dass ein Film durch sich selbst verständlich sein muss. Die filmische Handlung sind die Bilder, die durch Kameraführung, Überblendungs- und Schnitttechniken eine ungeheure Kraft entfalten. Dabei blickt der Film auf die pure Existenz eines depravierten Lebens in der Großstadt mit Gewalt, Armut und Prostitution. Keine Psychologisierung, keine Erklärung, mitten ins Auge und mitten ins Herz.
Reinhard Febel
Gedanken zur Musik zu dem Stummfilm Ménilmontant
Eine Komposition zu schreiben, die einen Stummfilm begleitet, ist ein anderes Unterfangen, als zum Beispiel Musik zu einem Fernsehfilm zu komponieren. Die Tonspur gehört allein der Musik. Diese Selbstverständlichkeit ermöglicht vielfältige und durch andere Strukturebenen ungestörte Beziehungen zwischen Bild und Ton, deren wichtigstes Element natürlich die Schnitte sind und bleiben, sowohl im Film selbst wie in der Musik. Beim einzelnen Schnitt muss nicht unbedingt der Filminhalt ganz durchschnitten werden (obwohl dies im mechanischen Sinn natürlich der Fall ist), sondern einzelne Elemente können über die Bruchstellen hinübertragen und so komplexere zusammenhänge stiften. Ebendies kann nun auch in der vertonenden Musik versucht werden. Das heißt, so wie in einer Schnittfolge der Bilder manche Elemente durchaus geschnitten sein können (zum Beispiel die Blickperspektive oder ein Wechsel von Nahaufnahme zur Totale), und manche aber nicht (vielleicht bleiben es dieselben Personen, derselbe Ort oder wie im Eisensteinsehen Beispiel dieselbe Farbe Weiß), so kann sich dieser Strukturgedanke auch in der Musik wiederfinden: Manches mag gleichbleiben, sei es die Instrumentation, die Dynamik, die Motivik - und manches dagegen nicht. So kann sich ein mehrfacher Kontrapunkt ergeben: Einmal zwischen den Klang-und den Bildschnitten, wobei Gleichzeitigkeit homophon genannt werden könnte und anderes polyphon, zum anderen innerhalb des geschnittenen Materials selbst, sei es auf der visuellen oder der akustischen Ebene. Einem Schematismus wird somit entgegengearbeitet: Wo der Cutter am Schneidetisch schnipp gemacht hat, muss der Komponist später nicht unbedingt schnapp sagen und die Musik an dieser Stelle zerteilen, als wäre sie der O-Ton der aufgenommenen Szene - was sie ja nicht ist. Es wird sich also ein vielgestaltiges Netz von Beziehungen über das Gesamtwerk aus Bild und Ton spannen und dieses zusammenhalten, vielleicht nicht unähnlich den Leitmotiven in der Oper, doch freier, vieldeutiger und beweglicher, als würfen die Darsteller und Objekte des Films lediglich ihre Schatten auf die Musik.
(Textauszug aus dem Programmheft WDR/3 "Musik der Zeit [7] FIEBERKURVE)
Ménilmontant
Musik für Orchester von Reinhard Febel (2020) zum gleichnamigen Film von Димйтрий кирсáнов (Dimitri Kirsanoff)
Besetzung:
2 Flöte (2.Picc).1 Oboe.2 Klarinette (2.BKla).1 Fagott
2 Horn.1 Trompete.1 Posaune.0 - 1 Pauken.1 Schlagzeug.Klavier - Streicher (5.4.3.3.2)
Schlagzeug: Triangle, Sizzle cymbal, 2 Tam-tams (small and large) Tom-tom, 3 Wood blocks, 2 snare drums, Bass drum, Vibraphone
MENILMONTANT wurde von Lobster Films mit Unterstützung des CNC und der Cinematheque française restauriert, ausgehend von einer nitratgefärbten Kopie der ersten Fassung des Films, die sich in den Sammlungen des British Film Institute befindet.
Reinhard Febel, geboren 1952. Studium in Freiburg u.a. bei Klaus Huber. 1989 Professur (Komposition und Musiktheorie) an der Musikhochschule Hannover, seit 1997 am Mozarteum Salzburg. Gastvorlesungen, Vorträge, Workshops und Kurse u. a. in Wel-lington und Auckland (Neuseeland), in Riga, La Paz (Bolivien), Buenos Aires, Houston, Taipei und Kyoto. Preise und Stipendien: u.a. 1979 Stipendiat der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwest-funks, 1980 Beethoven-Preis der Stadt Bonn; Preis beim Kompositionsseminar Boswil (Schweiz), 1984 Stipendiat der Villa Massimo Rom; Preisträger der Steinbrenner-Stiftung, Stamitz-Preis. Neuere Werke: Klaviertrio Nr. 2 (2006 -07), Morde in Bildern (Musiktheater 2005-08), Berceuse avec cauchemar (2007) für Orchester, Raum 17 (Musiktheater 2008), stelle (2011) für Orchester, Hyperklavier (2015) für Klavier solo und 13 Instrumente, Slumberland (2018) für 6 Pianisten, Flöte, Klarinette, Violoncello, Schlagzeug, Dispassion (2018} für Ensemble.
Dimitri Kirsanoff, (eigentlich Markus David Kaplan) 1899 in Tartu in Estland geboren, 1957 in Paris gestorben. Studium in Paris (Cello) an der Ecole Normale de Musique. Spielte in einem Kino-Orchester. Besuch von Cine-Clubs, wo er seine zukünftige Ehefrau Germaine Lebas kennen lernte, die ebenfalls einen russischen Namen annahm: Nadia Sibirskaïa. Sie spielte die Hauptrolle im Debutfilm L'ironie du destin (1923) und Ménilmontant (1924). Seine Filme entstanden in Eigenfinanzierung. Mit dem Aufkommen des Tonfilms ging Kirsanoffs Karriere zu Ende. Filme (Auswahl): L'ironie du destin (1923), Sables (1927), Brumes d'automne (1929), Rapt: la séparation des races (1934), Les berceaux (1935), Visages de France (1936), La jeune fil/e au jardin (1936), L'avion de minuit (1938), Quartier sans soleil (1939), Deux amis (1946), Faits divers à Paris (1950), Le témoin de minuit (1953), Le craneur (1955), Ce soir les jupons volent (1956), Miss Catastrophe (1957).
Credits
- Regie, Buch, Kamera, Schnitt:
Dimitri Kirsanoff - Schaupieler:
Nadia Sibirskaïa (jüngere Schwester), Yolande Beaulieu (ältere Schwester), Guy Belmont (junger Mann) - Restaurierung (2020/21):
Lobster Film Paris - Musik (2020):
Reinhard Febel (Auftragswerk von WDR, ZDF und ARD/Degeto in Zusammenarbeit mit Arte) - Redaktion:
Harry Vogt (WDR), Nina Goslar (ZDF), Regina Krachowitzer (ARD/Degeto) - Produzent:
Thomas Schmölz (2eleven music film) - Koproduktion:
Westdeutscher Rundfunk WDR/3