Menschen am Sonntag

DE, 1930, 72 Minutes | HD-s/w-restaurierte Fassung


Der junge Reisende Wolfgang macht die Bekanntschaft der Christl, ihres Zeichens Statistin. Ein Sonntagsausflug ist bald verabredet. Von der Partie werden auch Erwin und Annie, gute Bekannte und Freunde Wolfgangs, sein. Allgemeines Treffen am Bahnhof Nikolassee. Aber Annie verschläft den Zug. Guter Rat ist jedoch nicht teuer. Christl hat eine Freundin mitgebracht, die blonde Brigitte. Man ist also komplett. Bald ist die lustige Gesellschaft im Wasser. Ein Koffer-Grammophon spielt. Verführerisches. Von der kleinen Konditorei. Die Sonne brennt. Mittag. Wolfgang wendet merklich seine Sympathien der kleinen Brigitte zu. Sie ist blond! Und unwahrscheinlich jung! Der dicke Erwin kann Christl nicht trösten. Lange sind Wolfgang und Brigitte verschwunden. Doch auch Brigittes Glück wird nicht dauern. Ein Sommertagsglück. Am nächsten Sonntag gehen die Jungens zum Fußball. Wolfgang wird kaum zum Rendezvous mit der kleinen Brigitte erscheinen.

Im Sommer 1929 dreht eine Gruppe junger Film-Enthusiasten auf den Straßen Berlins einen Film, dessen Drehbuch sie zwischen den Aufnahmen am Kaffeehaustisch improvisieren. Es sind die zu diesem Zeitpunkt noch wenig bekannten Filmemacher Robert und Curt Siodmak sowie Fred Zinnemann und Billy Wilder. Der Film zeigt fünf junge Laiendarsteller aus Berlin -  Christl, Wolfgang, Annie, Brigitte und Erwin - , die sich zu einen gemeinsamen Sonntagsausflug ans Strandbad Wannsee verabreden. Dort herrscht Badetrubel und ein buntes Durcheinander, dazwischen Kartoffelsalat und heiße Würstchen. Ein Fotograf schießt Erinnerungsbilder für jedermann, Cameo-Auftritte von Regisseur Kurt Gerron und Tänzerin Valeska Gert. Inszenierung und dokumentarischen Bilder dieses frühen Beispiels eines Independent Films verbinden sich zu einer modernen Momentaufnahme: Blicke aus der Stadtbahn, ein Herr ergötzt sich am Denkmal des „Großen Kurfürsten“, Spaziergänger begleiten ein Musikkorps im Gleichschritt. Stilleben von Grabmälern eines Steinmetzbetriebes und verwahrlosten Hinterhöfen. Die Uraufführung am 4. Februar 1930 im Union Theater UT Kurfürstendamm war ein Überraschungserfolg und markierte für die jungen Filmemacher den Beginn ihrer Weltkarriere.  

Der Film wurde 2014 von der Deutsche Kinemathek in Zusammenarbeit mit EYE Filminstituut Nederland restauriert. 2021 schrieb der Posaunist und Komponist Uwe Dierksen im Auftrag der Friedrich Wilhelm Murnau-Gesellschaft Bielefeld eine neue Ensemblemusik, die im Rahmen des Film+MusikFest Bielefeld am 22.10.2021 uraufgeführt wurde.

Uwe Dierksen über seine Musik:

Meine Musik orientiert sich an der harmonisch komplexen Musik eines Kurt Weill oder Hanns Eislers. Die Grundstimmung ist eine unterhaltende- melancholische: gängige Schlager der 20er Jahre werden nicht zitiert, sind aber in ihrem Gestus präsent, weil ich Melodien und Harmonien erfinde, die ähnlich klingen, aber niemals, so hoffe ich, überreizt werden. Zudem mahnt der Blick aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert zu einer klugen Durchdringung und einer abstrakten Haltung gegenüber der Wahl der musikalischen Mittel, denn natürlich hat sich seit den zwanziger Jahren die allgemeine Musikrezeption beträchtlich verändert. Zieht sich in diesem Sinne ein Faden der erzählenden Unbeschwertheit durch den Film, so erlaubt mir dieses Grundgerüst dann aber umso mehr davon abzuweichen und Passagen

einzuflechten in denen sich der Charakter gänzlich ändert. Der leckende Wasserhahn etwa wird zum Takt- und Melodiengeber für die gesamte Szene, die in der Wohnung des Taxifahrers mit seiner Freundin stattfindet.

Ich erlaube mir hier sogar eine kleine „musique concrete“ zu komponieren, in dem ich besagtem Tropfen des Wasserhahns, das Knarzen der Schranktür, das Ticken der Standuhr, das Rascheln der Zeitung etc. zu musikalischen Protagonisten mache und so den alltagsbestimmenden Geräuschen eine musikalische Identität gebe. Um die Sehnsucht der

Menschen nach dem Sonntag verständlich zu machen, muss die Musik für das Öde im Alltag, bzw. für das Alltägliche eine Sprache finden (siehe auch Siegfried Kracauer: „Die Angestellten“ ). Zudem sind solche Musiken wichtig, um die Ambivalenz der Beziehungsqualitäten zwischen den Figuren zu beschreiben: einerseits zeigt Kurt Siodmak seine Schauspieler*innen sehr emotional und warmherzig, anderseits bleibt er auch, insbesondere durch die Kameraführung

Eugen Schüfftans, distanziert- beobachtend: irgendwie scheint keine Beziehung so richtig zu

funktionieren. Ähnlich wie die „Wasserhahnszene“ behandele ich auch bestimmte Großstadtszenen. Es gibt entscheidende Unterschiede in der Art wie Kurt Siodmak Stadtszenen anlegt: da wo einzelne Menschen noch unschuldig vor Schaufenstern flanieren, scheinen sich an der nächsten Ecke plötzlich Massen im Gleichschritt zu bewegen. Unbeschwertheit und

Bedrohung liegen nahe beieinander- diese Unterschiede erkennen und herauszuarbeiten sollte die Musik leisten, hier kann sie enorme Kraft entfalten.

Menschen am Sonntag


Filmmusik für kleines Ensemble von Uwe Dierksen (2021) zum gleichnamigen Film von Robert Siodmak (1930)

Besetzung:
Klavier, Violine (auch Mandoline), Violoncello, Posaune
2-Kanal-Zuspiel (fixed media)

Verlag: © 2021 2eleven edition musiQ

Robert Siodmak, geboren am 8. August 1900 in Dresden wendet sich 1925 dem Filmgeschäft zu. Er beginnt als Übersetzer von Zwischentiteln und stellt 1927/28 als Editor für den Regisseur Harry Piel Schnitt-Versionen älterer Filme her. Daneben arbeitet er bei der von seinem Onkel Heinrich Nebenzahl und dessen Sohn geleiteten Nero-Film in Berlin als Regieassistent.
Sein Regiedebüt gibt Robert Siodmak 1929/30 mit dem dokumentarischen Spielfilm "Menschen am Sonntag", den er auch selbst schreibt und produziert. Als Co-Regisseure und Co-Autoren zeichnen Fred Zinnemann, Edgar G. Ulmer und Roberts zwei Jahre jüngerer Bruder Kurt Siodmak verantwortlich, der als Autor und Filmregisseur ebenfalls Karriere machen wird. "Menschen am Sonntag" bringt Robert 1929 einen Vertrag bei der Ufa ein, wo er ab 1930 die Regie bei Kinoproduktionen übernehmen darf. Nachdem man ihm bei der Ufa mit Konfektionsware wie der Romanze "Quick" (1932) abspeisen will und er von dem ambitionierten Projekt "F.P.1 antwortet nicht" (nach dem Roman seines Bruders Kurt) abzieht, verlässt Siodmak die Ufa. Für die Tonal-Film/Deutsche Universal realisiert er 1932/33 mit "Brennendes Geheimnis" (nach Stefan Zweig) seinen letzten deutschen Film vor dem Exil, dessen Aufführung jedoch von dem in diesem Jahr eingerichteten Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda verboten wird. Im April 1933 zieht Siodmak angesichts der Machtergreifung der Nazis mit seiner späteren Ehefrau Bertha ("Babs") Odenheimer nach Paris. 
Der große Durchbruch in künstlerischer Hinischt gelingt ihm 1938 mit dem Drama "Mollenard", das er für den Außenseiter-Produzenten Edouard Corniglion-Molinier realisiert. Einen ersten großen Publikumserfolg kann er 1939 mit dem Thriller "Pieges" verzeichnen. Noch im gleichen Jahr siedelt Siodmak wegen des Kriegsausbruchs nach Amerika über. Zwischen 1940 und 1943 inszeniert er eine Reihe von B-Filmen für das Paramount-Studio, das ihn auch an 20th Century-Fox und Republic "ausleiht". Ende 1943 bekommt er durch seinen Bruder Kurt (nun "Curt"), der als Drehbuchautor nach Hollywood gegangen war, einen mehrjährigen Vertrag bei Universal.
Bis Ende der vierziger Jahre realisiert Siodmak seine berühmten Filme der "schwarzen Serie", wie etwa "Zeuge gesucht" (1944), "Unter Verdacht" mit Charles Laughton (1944) oder "Die Wendeltreppe" (1945). Mit "Die Killer" (1946) mit Burt Lancaster und Ava Gardner, nach einer Kurzgeschichte von Ernest Hemingway, steigt Siodmak auch endgültig in die erste Regie-Liga auf: Er erhält eine Oscar-Nominierung als Bester Regisseur, die Jahrespublikation "Fame" wählt ihn zum "Champion of Champions Director". Bei den Studios erzielt Siodmak zeitweise Rekordgagen. Weitere große Erfolge in den USA sind "Gewagtes Alibi" (1949) und "Der rote Korsar" (1952), beide mit Burt Lancaster in der Hauptrolle.
Trotz seines großen Erfolgs in den USA kehrt Siodmak 1951 nach Europa zurück. Nach Stationen in Frankreich und Großbritannien arbeitet er ab 1954 vor allem in der Bundesrepublik, lebt jedoch ab 1955 im schweizerischen Ascona. Bereits sein erster deutscher Film avanciert im Lauf der Jahre zu einem seiner großen Klassiker: Das Milieu-Drama "Die Ratten", nach einem Bühnenstück von Gerhard Hauptmann, mit Maria Schell und Curd Jürgens in den Hauptrollen wird bei der Berlinale 1955 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Das Kriminaldrama "Nachts wenn der Teufel kam" (1957) erhält eine Oscar-Nominierung als "Bester ausländischer Film", Siodmak wird beim Deutschen Filmpreis als Bester Regisseur geehrt.
In den 1960er Jahren dreht Siodmak eine Reihe aufwändiger Unterhaltungsfilme: So etwa die drei Karl-May-Filme "Der Schut" (1964), "Der Schatz der Azteken" (1965) und "Die Pyramide des Sonnengottes" (1965). Der zweiteilige Monumentalfilm "Kampf um Rom", nach dem historischen Roman von Felix Dahn aus dem Jahr 1876, mit Orson Welles in einer Hauptrolle, wird 1969 Siodmaks letzte vollendete Kinoarbeit. 
Am 10. März 1973, knapp zwei Monate nach dem Tod seiner Frau Bertha, erliegt Robert Siodmak im Bezirksspital Locarno, Schweiz, einem Herzschlag.

Uwe Dierksen (*1959) ist seit 1983 Posaunist im Ensemble Modern. Er spielte über 20 CDs ein, davon etwa ein Drittel als Solist und mit seiner Band MAVIS. In den letzten 10 Jahren ist er auch als Dozent und Komponist von Hörspielen und Performanceprojekten (u.a. mit Judith Rosmair) aktiv. Im Auftrag von ZDF/ARTE und der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung komponierte er weitere Stummfilmmusiken u.a. zu DER GEIGER VON FLORENZ (D und DIE PEST IN FLORENZ.


Credits

  • Regie:
    Robert Siodmak, Rochus Gliese (erste Drehtage), Edgar G. Ulmer (Eine Woche)
  • Drehbuch:
    Billy Wilder
  • Musik (2021):
    Uwe Dierksen (2021)
  • Darsteller:
    Erwin Splettstößer (Taxifahrer Erwin), Brigitte Borchert (Schallplattenverkäuferin Brigitte), Wolfgang von Waltershausen (Weinverkäufer Wolfgang), Christl Ehlers (Filmkomparsin Christl), Annie Schreyer (Mannequin Annie), Kurt Gerron (Passant), Valeska Gert (Passantin), Ernö Verebes (Passant), Heinrich Gretler (Passant)
  • Restaurierung (2014):
    Deutsche Kinemathek, EYE Filminstituut Nederland
  • Redaktion:
    Nina Goslar
  • Musikproduktion:
    Thomas Schmölz, 2eleven music film

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