Tartüff

Deutschland 1925, 69 Minuten | Restaurierte viragierte Fassung

Murnaus filmische Adaption des Bühnenklassikers über den scheinheiligen Tartüff ist in eine amüsante Rahmengeschichte eingebunden: ein kränklicher alter Herr wird von seiner Haushälterin fast um sein Vermögen gebracht, doch sein gewiefter Enkel durchschaut die Machenschaften und entlarvt die Betrügerin, indem er TARTÜFF als Film und virtuos inszeniertes Lehrstück vorführt.


Aus vermeintlicher Nächstenliebe pflegt eine Frau einen alten Herren und plant eiskalt einen Giftmord. Sein Enkel kommt zu Besuch und durchschaut das falsche Spiel der Haushälterin. Damit der Großvater endlich wieder zur Vernunft kommt, führt er Tartüff als Film in einem Wanderkino vor. Murnau und sein genialer Drehbuchautor Carl Mayer stricken aus der Handlung des Bühnenstücks eine fast atemlos ablaufende Geschichte, in der es ziemlich unverblümt um Erotik geht – sowohl zwischen den beiden Männern Orgon und dem scheinheiligen Tartüff, wie auch zwischen Tartüff und Orgons Frau Elmire. Erst als Tartüff sich in Elmires Bett wälzt und Orgon diese Szene durchs Schlüsselloch beobachtet, ist er von seinem Religiösenwahn erlöst. Sehen als therapeutische Veranstaltung - und so wacht auch der naive Großvater aus seiner Verblendung auf und jagt die betrügerische Haushälterin aus dem Haus.

Von TARTÜFF wurden vier Kameranegative für den heimischen und den internationalen Markt hergestellt. Vollständig erhalten geblieben ist nur eine der Exportfassungen. Sie liegt als Dup-Positiv im Staatlichen Filmarchiv Gosfilmofond in Moskau, wo viele deutsche Filme als Beutegut aus dem ehemaligen Reichsfilmarchiv verwahrt sind. Diese schwarz-weiß-Kopie enthält als einzige überlieferte Kopie alle Zwischentitel und auch die Szenen, die in der – technisch perfekteren – amerikanischen Version fehlen, darunter eine lange Szene zwischen Tartüff und Orgon, die der amerikanischen Filmzensur wohl zu homoerotisch war. Die neue Digital-Restaurierung folgt der für Exportfassungen üblichen Färbung: Szenen in orange, die Inserts gelb, Zwischentitel schwarz-weiß.

Ausgangsmaterial für die Filmmusik von Detlev Glanert war ein historischer Klavierauszug von Giuseppe Becce, der von der Ufa mit einer Originalmusik beauftragt worden war. Seine Filmmusik erklang zur Premiere des Films, zugleich Wiedereröffnung des Gloria-Palastes am 25.01.1926 als noblem Ufa-Uraufführungskino. Die große Herausforderung der Bearbeitung und Orchestrierung der Musik waren offensichtliche Abweichungen im letzten Drittel des Films, hier fehlt Musik. Detlev Glanert komponierte dafür Musik in der Stilistik von Becce nach, was ihm als versiertem Opernkomponisten nicht schwerfällt. Seine Ergänzungsmusik ist eine perfekte Anverwandlung an Giuseppe Becce, der seine Stummfilm-Musiken ganz aus der Operndramaturgie entwickelt hat, d.h. Leitmotiv-Technik, kommentierende Rezitative und die Umsetzung der Befindlichkeiten der Figuren in einer stark gestischen Musik: jetzt wieder in Detlev Glanerts Bearbeitung auf höchstem musikalischem Niveau zu erleben.

Tartüff

Originalmusik von Giuseppe Becce zum gleichnamigen Film (1925)

(Instrumentation, Bearbeitung und Ergänzungen von Detlev Glanert (2014/15)

Orchesterbesetzung
2(II=Picc).2.2.2(II=KFag) – 2.2.1.0 – Pauken, Schlagzeug (2 Spieler), Harfe – Streicher (min. 10.8.6.4.2)

Verlag © 2014 Bote & Bock

Friedrich Wilhelm Murnau ist der wohl bedeutendste deutsche Filmregisseur der Stummfilmzeit, ein Visionär des Kinos. Murnau arbeitete zunächst im Theater von Marx Reinhardt. 1919 inszenierte er mit Der Knabe in Blau seinen ersten Film und etablierte sich als produktiver Regisseur. Bis 1924 entstanden 14 Filme – darunter Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens (1922). Ab 1924 arbeitete er für die Ufa und inszenierte Der letzte Mann, Tartüff und Faust. Ab 1927 arbeitete er in den USA. Dort entstanden Sunrise, Four Devils (verschollen) und City Girl. 1929 dreht er in der Südsee Tabu, dessen Uraufführung Murnau nicht mehr miterlebte.

Detlev Glanert wurde 1960 in Hamburg geboren. 1980 - 1982 studierte er Komposition bei Diether de la Motte in Hamburg, 1985 - 1989 bei Hans Werner Henze in Köln. 1992/1993 war er Stipendiat der ‘Villa Massimo’ in Rom. Mit seinen erfolgreichen Bühnenwerken gehört Detlev Glanert heute zu den meist gespielten lebenden Opernkomponisten in Deutschland, seine 14 Musiktheaterstücke wurden alle mehrfach aufgeführt. Für seine Opern erhielt er mehrere Preise, zuletzt 2020 den OPUS Klassik als „Komponist des Jahres“ sowie 2020/2021 den International Opera Award. Seine Opern-, Orchester- und Kammermusik zeigt eine Affinität zur romantischen Tradition, gefärbt durch eine zeitgenössische Perspektive. Neben den 14 Opern entstanden vier Sinfonien, zahlreiche Stücke für Orchester und Kammermusikensembles und Solo-Konzerte.

Giuseppe Becce, der Komponist der Originalkomposition, hat als gebürtiger Italiener die Entwicklung der deutschen Filmmusik jahrzehntelang mitbestimmt; über 100 Tonfilme hat er bis ins hohe Alter vertont, in der Stummfilmzeit war er einer der prominentesten Kinokapellmeister Berlins, 1927 veröffentlichte er das ‚Allgemeine Handbuch der Filmmusik’ und schuf damit ein Standardwerk der Musikliteratur.

Becce, 1877 in Oberitalien geboren, kam um 1900 als Geografie-Student nach Berlin, studierte dort Musik und debütierte 1910 als Komponist von Opern und Operetten. Über den Filmproduzenten Oskar Messter ergab sich ein erster Kontakt zum Film: Becce spielt 1913 Richard Wagner in der gleichnamigen Messter-Produktion und komponiert in seinem Stil die Filmmusik, was Messter wiederum hohe Lizenzen an die Wagner-Erben erspart.

Von da an begann Becces einzigartige Karriere als Filmmusiker und Musik-Theoretiker. Er arrangierte zahllose Illustrationsmusiken, schrieb Lieder und Motive und war als Dirigent an den führenden Uraufführungs-Kinos Berlins tätig: von 1915 bis 1923 leitete er für die Messter-Filmproduktion das Orchester im Mozartsaal, 1922 übernahm er das Orchester des (in der Nachbarschaft des Mozartsaals gelegenen) Ufa-Pavillons am Nollendorfplatz, ab 1923 dirigierte er zusätzlich am Tauentzien-Palast und ab 1926 im Gloria-Palast. Seine wichtigsten Originalkompositionen aus der Stummfilmzeit sind die Kompositionen für die beiden Murnau-Filme Der letzte Mann (1924) und Tartüff (1925).

Ab 1930 entstanden seine über 100 Tonfilmmusiken. Populär sind vor allem die von ihm vertonten Bergfilme, wie das Blaue Licht (1931, Leni Riefenstahl), die Tonfilmfassung von Die weiße Hölle vom Piz Palü (1935, Arnold Fanck), sowie Berge in Flammen (1931). Von da an vertonte er, bis Ende der 50er Jahre, fast nur noch Heimat- und dokumentarische Bergfilme. Becce starb 1973  mit 96 Jahren in Berlin.


Credits

  • Regie:
    Friedrich Wilhelm Murnau
  • Drehbuch:
    Carl Mayer
  • Kamera:
    Karl Freund
  • Bauten:
    Robert Herlth, Walter Röhrig
  • Produktion:
    Universum-Film AG
  • Uraufführung:
    25.01.1926, Gloria-Palast, Berlin
  • Darsteller:
    Emil Jannings (Herr Tartüff), Werner Krauß (Orgon), Lil Dagover (Elmire), André Mattoni (Enkel), Rosa Valetti (Haushälterin), Hermann Picha (der greise Onkel), Lucie Höflich (Dorine)
  • Musik:
    Giuseppe Becce, bearbeitet und orchestriert von Detlev Glanert (i.A. von ZDF/ARTE), Restaurierung: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung / Luciano Berriatúa
  • Redaktion:
    Nina Goslar
  • Ausführender Produzent:
    Thomas Schmölz (2eleven music film)

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